Einleitung

„Welches Buch hat Sie nachhaltig beeinflußt?“[1] Diese Frage beantwortete Björn Höcke in einem Fragebogen der Wochenzeitung Junge Freiheit mit: „Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral“.[2] Die Junge Freiheit (JF) entstand, ihrer Selbstdarstellung nach, aus einem universitären Milieu in den 1980er Jahren. Sie bezeichnet sich als „das konservative Medium im deutschsprachigen Raum“.[3] Braun, Geisler und Gerster charakterisieren die Junge Freiheit als „eine der schärfsten Waffen im Arsenal der Neuen Rechten“.[4] Ihnen zufolge spielt das Blatt nach wie vor “für die Vernetzung von alter und neuer, extremer und demokratischer Rechter eine zentrale Rolle.“[5] Björn Höcke ist unteranderem Mitgründer der national-konservativen Gruppe ‚der Flügel‘ innerhalb der AfD.[6] „Dieser unterhält wiederum Verbindungen zur Identitären Bewegung und weiteren Zirkeln der sogenannten Neuen Rechten.“[7]

„Ursprünglich bezog sich der Begriff ‚Neue Rechte‘ auf Gruppierungen innerhalb des organisierten Rechtsextremismus, die sich gegen die am Nationalsozialismus oder am Deutschnationalismus orientierte ‚Alte Rechte‘ richten. Mittlerweile werden damit allerdings in erster Linie die an der Konservativen Revolution der Weimarer Republik orientierten intellektuellen Vordenker der extremen Rechten bezeichnet.“[8]

In „Nietzsche als Vordenker der Neuen Rechten?“ beschäftigt sich Sebastian Kaufmann mit der Nietzsche Rezeption innerhalb der Neuen Rechten. So beruft sich die Neue Rechte in verschiedensten Strömungen und Medien häufig auf Nietzsche.[9] Kaufmann stößt auf das Problem, dass nicht klar wird, auf welche Werke und Stellen sich bezogen wird.[10] So bleibt auch beim einleitenden Zitat eine Erklärung Höckes aus. Auch Marc Jongen, der „Parteiphilosoph der AfD“,[11] beschreibt in einem Interview in der „Zeit“ Nietzsche als „prägendes Lektüreerlebnis“.[12] Jongen führt dies auch weiter aus: „Von dem, was Nietzsche in der Genealogie der Moral über das Ressentiment schreibt, lässt sich eine direkte Linie zum Gutmenschentum ziehen, dem sich die AfD entgegenstellt.“[13] Wie diese „direkte Linie“ zu ziehen sei, wird weder aufgeführt noch angedeutet. „Es ist auch keineswegs so, dass Jongen sich in der Nietzscheforschung einen nennenswerten Namen gemacht hätte – sieht man einmal von einer ihrerseits ‚nur‘ feuilletonistischen Arbeit ab“.[14]

Der Verbindung von ‚Gutmensch‘ und Mensch des Ressentiments von Nietzsche widmet sich auch Thorsten Hinz in einem Artikel in der Jungen Freiheit aus dem Juli 2009. Hinz stieß im Mai 1997 „als Kulturkritiker zur JF und zählt seit diesem Zeitpunkt zu den richtungsführenden Autoren. Hinz tritt in der JF auch als ‚Doris Neujahr‘ in Erscheinung.“[15] In dieser Arbeit soll, anhand des Artikels von Hinz, die Rezeption Nietzsches in der Neuen Rechten exemplarisch auf ihre Gültigkeit hin untersucht werden. Es wird sich zeigen, dass sich sowohl die direkte Linie zwischen Ressentiment und Gutmensch, als auch die Selbstdarstellung der Neuen Rechten als Mensch der Herrenmoral, nicht halten kann. Dafür wird mit der Charakterisierung des Gutmenschen nach Hinz gearbeitet. Im Nachfolgenden Teil wird gezeigt, wie Hinz den Gutmenschen und den Menschen der Sklavenmoral gleichsetzt und welches Selbstbild daraus resultiert. Daraufhin soll die Zitationsweise Hinz‘ sowohl technisch als auch semantisch untersucht werden. Mit abnehmender Textnähe werden darauf Begriffe bei Hinz und Nietzsche untersucht, um schlussendlich grundlegende Konzepte zu erkennen.

Schlussendlich wird das Konzept des Gutmenschen nicht die Reichweite der Sklavenmoral abdecken können und es kann gezeigt werden, dass selbst die Sichtweise des Artikels elementare Merkmale der Sklavenmoral erfüllt.

Der gute Mensch bei Nietzsche und Hinz

Für Nietzsche waren es die „Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Tun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.“[16] Daraus entwickelte sich der Gegensatz ‚Gut und Schlecht‘; wobei das Schlechte mehr beschreibend als wertend zu verstehen ist.[17]

Aus dieser zu sich selber Ja-sagenden Macht,[18] entstand ein Hass in niedrigen Gruppen[19], welcher sich in einer neuen Art der Moral manifestierte. Diese neue Moral, aus der Gruppe der Schlechten, definierte sich über die Negation der anderen Moral. Sie werteten die andere Moral um, denn die Vornehmen wirkten grausam auf die Schwachen[20]. Daraufhin konstruierten die Schwachen „den bösen Feind“[21], ein schöpferischer Akt, und definierten sich selbst als Gegenstück zum Bösen.[22] Diesen Prozess bezeichnet Nietzsche als Sklavenaufstand in der Moral, den die Sklaven-Moral gewann.[23]

„Die beiden entgegengesetzten Werte »gut und schlecht«, »gut und böse« haben einen furchtbaren, jahrtausendelangen Kampf auf Erden gekämpft; und so gewiß auch der zweite Wert seit langem im Übergewichte ist, so fehlt es doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf unentschieden fortgekämpft wird.“[24]

Hinz nutzt den Begriff Gutmensch austauschbar zu dem vom guten Menschen der Sklavenmoral. In Absatz 6 spricht er beispielsweise vom gutem Menschen und Mensch des Ressentiments[25] und meint damit auch den Gutmenschen. Auffällig ist, dass Hinz nicht zwischen zwei Arten von Moralität differenziert. Angesichts der starken Kritik am ‚Gutmenschentum‘, den Gefahren, die Hinz beschreibt, und der gezielten Ansprache des Lesers als Mensch außerhalb der Sklavenmoral,[26] wird eindeutig, dass sich Hinz selber nicht der Sklavenmoral zugehörig fühlt.

Zitation

Im Folgenden wird das längste Nietzsche Zitat im Artikel, welches sich durch den ganzen zwölften Absatz zieht, untersucht. Hinz gibt keine Quelle für das Zitat an, es ist aber in Kapitel I.11 in der Genealogie der Moral zu finden. Es folgt eine Tabelle, die in den gemeinsamen Reihen die identischen Passagen darstellt und in den geteilten Reihen auf der rechten Seiten die Änderungen Hinz‘, gegenüber dem Original links, aufzeigt. Auch die aufschlussreichen Auslassungen von Hinz, werden so dargestellt.

Marks Nietzsche[27] Hinz[28]
1. Hier wollen wir eins am wenigsten leugnen: Für diejenigen, die diese Verhunzung sowohl der Politik als auch der Moral nicht hinnehmen wollen, gelten die Nietzsche-Sätze:
2. wer jene »Guten« nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen,
3. und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen – sie sind nach außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt,
4. nicht viel besser als losgelassene Raubtiere.
5. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft gibt, sie treten in die Unschuld des Raubtier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer die sich für den selbstauferlegten Zwang, ihre Komplexe und ihren heimlichen Selbsthaß durch eine
6. scheußlichen Abfolge von
7. Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung Niedertracht und Grausamkeit entschädigen, aus der sie als „frohlockende Ungeheuer“ und
4. mit einem Übermute und seelischen Gleichgewichte davongehen,wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei,
9. überzeugt davon, daß die Dichter für lange nun wieder etwas zu singen und zu rühmen haben.

Mit den „Guten“ (in Tabellenzeile 2) meint Hinz offensichtlich die Gutmenschen. Denn er deutet dies in Tabellenzeile 1 an und beschreibt ihren Selbsthass. Das Nietzsche hier etwas anderes meint, wird zu einem späteren Zeitpunkt erörtert werden. Im Folgenden wird vorerst von Hinz‘ Interpretation ausgegangen. Die Gutmenschen sind also böse, „nicht viel besser als losgelassene Raubtiere“[29] und handeln aus Selbsthass grausam. Auffällig ist, dass Hinz die positiv konnotierten Eigenschaften der ‚Guten‘ von Nietzsche, wie in Tabellenzeile 3 dargestellt, auslässt. Auch die Charakterisierung als „losgelassene[s] Raubtier“[30] beschreibt Nietzsche nur als äußerliche Wirkung, Hinz dagegen stellt sie als Merkmal der Gutmenschen dar. Während die ‚Guten‘ Nietzsches aus einem Freiheitsdrang handeln, so handeln die Gutmenschen in Hinz‘ Zitation aus Selbsthass (Tabellenzeile 5). Hinz übernimmt nicht die Differenzierungen Nietzsches, sondern nur die vermeintlich negativen Aspekte der ‚Guten‘. Dazu schließt er in seinem Paragraphen Eigenschaften, wie den „heimlichen Selbsthaß“,[31] mit ein, die im Originalzitat nicht erwähnt werden, durch die Formulierung im Artikel allerdings genau dies suggerieren. Es wird also deutlich, dass in diesem Paragraphen manipulativ zitiert wurde. Auffällig ist, dass Hinz den Gewaltexzess der ‚Guten‘ abwertend sieht. Grausamkeit scheint für ihn eine negative, abzulehnende Eigenschaft zu sein. Nietzsche positioniert sich hier konträr. „Die Grausamkeit ist für [Nietzsche] eine Fähigkeit und kein Laster, eine kulturschaffende, erfinderische und sogar verfeinernde Eigenschaft“.[32] Erst die Sklavenmoral deutete die Grausamkeit in etwas Schlechtes um. Die ‚Guten‘ in Tabellenzeile 2 werden als böse Feinde beschrieben. Einer Beschreibung der sich Hinz anscheinend anschließt, um so den Gutmenschen zu beschreiben. Allerdings unterscheidet sich auch hier die Nutzung des Wortes zu der von Nietzsche. Denn wie schon ausgeführt, ist das Böse für Nietzsche eine Erfindung der Sklavenmoral.

Übernimmt man Hinz‘ Interpretation von den ‚Guten‘ als Gutmenschen, beziehungsweise Anhänger der Sklavenmoral, und verbindet diese, sowohl mit den in der Originaltextstelle genannten Eigenschaften, beispielsweise dem Stolz, als auch dem positiven Grausamkeitsbegriff,[33] entstehen Widersprüche. Dass diese ‚Guten‘ in ihrer Wirkung als böse beschrieben werden, im Vokabular der Sklavenmoral, deutet an, dass es sich nicht um die Wirkung von Sklavenmoral auf Herrenmoral handeln kann. Es verhält sich gegenteilig: Mit den ‚Guten‘ in Tabellenzeile 2 sind nicht die Menschen des Ressentiments gemeint, sondern die Vornehmen. Deutlich wird dies unmittelbar vor und nach der zitierten Passage. So schreibt Nietzsche im unmittelbar vorherigen Satz auf die Frage, wen die Moral des Ressentiments als ‚böse‘ befindet: „eben der »Gute« der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende“.[34] Auf eben diese ‚Guten‘ bezieht sich Nietzsche, wenn er im nachfolgenden Satz (Tabellenzeile 2) von „jene[n] »Guten«“[35] spricht. Auch der Satz nach der Passage verdeutlicht, im Bezug auf die Gewaltexzesse, die Deutungsweise der ‚Guten‘ als Menschen der Herrenmoral:

„Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, […] nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung […] – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff »Barbar« auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind“[36].

Von Hinz wird im 6. Absatz des Artikels ein weiterer Nietzschebezug, diesmal mit der Genealogie der Moral als Quelle, aufgeführt.

„Für Nietzsche war der ‚gute Mensch‘ jemand, dessen ‚Seele schielt‘, dessen Geist ‚Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren‘ benutzt, der die Welt durch ‚das Giftauge des Ressentiments‘ betrachtet – eines Ressentiments, das schöpferisch wird“[37]

Bei Nietzsche findet sich die Textstelle in Kapitel I.10.38 Das erste vermeintliche Zitat, der ‚gute Mensch‘ kommt so im Original nicht vor, Nietzsche spricht vom Mensch des Ressentiments.[39] Ein weiterer Unterschied ist, dass der Geist dieser Menschen im Original „Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren“[40] nicht nutzt, sondern liebt.[41] Das dritte Zitat befindet sich nicht unmittelbar in der Nähe der anderen, sondern im nächsten Unterkapitel, auch hier wird nicht explizit die Betrachtung der Welt, sondern nur die Betrachtung der Vornehmen genannt.[42] Auch wenn in dieser Passage technisch unsauber zitiert wurde, treten keine direkten inhaltlichen Widersprüche zu den Aussagen Nietzsches auf.

Es kann festgehalten werden, dass sich die Zitierweise von Hinz mit den Erfahrungen von Kaufmann deckt:

„Die Neue Rechte beruft sich nicht nur auf gefälschte, sondern ebenfalls auf authentische oder ‚nur‘ leicht modifizierte Zitate, um Nietzsche als denkerische Autorität ins Feld zu führen. Allerdings zeigt sich auch hierbei jene Tendenz zur Sinnentstellung, die die (nicht nur rechtsgerichtete) Nietzsche-Rezeption schon seit ihrem Anfang zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägt.“[43]

Begriffe

In diesem Kapitel sollen Begriffsähnlichkeiten und -differenzen zwischen Nietzsche und Hinz untersucht werden.

Zuerst der Begriff der Klugheit, laut Nietzsche ist sie die größte Existenzbedingung für die Menschen des Ressentiments.[44] Deshalb werden Menschen des Ressentiments „notwendig endlich klüger sein als irgendeine vornehme Rasse“.[45] Auch Hinz spricht den Gutmenschen eine berechnende Eigenschaft zu,[46] spricht jedoch im gleichen Satz von einer politischen Naivität, ohne diese näher zu spezifizieren. Bei Nietzsche sind Aspekte einer Naivität von Menschen des Ressentiments zu erkennen, wenn er diese als „blauäugig-verlogen“[47] beschreibt. Die Naivität entsteht daraus, dass der Mensch des Ressentiments gar nicht in der Lage ist, die Wahrheit über seine Situation zu ertragen und sich somit in seiner Naivität für eine Lüge entscheidet.[48] Im Kontext der politischen Naivität scheint jedoch der Abschnitt, den Hinz in Absatz 6 zitiert, aussagekräftiger. Dort beschreibt Nietzsche die Methodik der Menschen des Ressentiments. Dieser „versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen.“[50] Nietzsche stellt den Menschen des Ressentiments in seinem Streben also als taktisch und berechnend dar, er ist „weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu.“[51]

Ein wiederkehrendes Motiv, das Hinz in seinem Artikel aufführt, ist der Selbsthass des Gutmenschen. In Absatz 8 attestiert Hinz ihnen einen Hang zum „Masochismus und Selbstmord“[52] und letztendlich „beschwören die ‚Gutmenschen‘ ihre Selbstausrottung herauf“.[53] Dabei reißen sie „die anderen mit in den Abgrund oder schubsen sie hinein“.[54] Nietzsche sieht in der Mitleidsmoral eine „große Gefahr der Menschheit“.[55] Allerdings zeigen sich bei ihm nicht die Züge einer vermeintlichen Ausrottung. Als Gefahr wird das Stehenbleiben, der Wille gegen das Leben und der Nihilismus angedeutet.[56] Auch der Wille gegen das Leben darf nicht als selbstmörderische Absicht verstanden werden. „Der »Priester« figuriert als elitärer Agent[der] ressentiment-grundierten Sklavenmoral“.[57] In ihm herrscht

„ein Ressentiment sondergleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über etwas am Leben, sondern über das Leben selbst […]; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick […] gegen das physiologische Gedeihen selbst, insonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Mißraten, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Häßlichen, an der willkürlichen Einbuße, an der Entselbstung, Selbstgeißelung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird.“[58]

Im Priester lassen sich Elemente erkennen, die vermeintlich dem Selbsthass und Masochismus entsprechen. Auch ist eine gewisse Widersprüchlichkeit zu erkennen. Dieser Widerspruch dient der Erhaltung des Lebens.[59]

Tatsächlich hält der asketische Priester „die ganze Herde der Mißratnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits: dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende – er gerade gehört zu den ganz großen konservierenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens…“.[60] [61]

Dieser Drang zum Leben überträgt sich tatsächlich auf die Menschen des Ressentiments. Für Nietzsche ist der Mensch des Ressentiments ein schwacher und ängstlicher. [62] Auch Hinz charakterisiert den Gutmenschen als jemanden, der sich potentiell Stärkeren unterwirft.[63] Nietzsche beschreibt das Sich-verkleinern und -demütigen allerdings als vorläufig,[64] es gehört zu der bereits analysierten, berechnenden Methodik der Sklavenmoral. Denn auch die Schwachen streben nach Macht.[65] Es herrscht ein Wille zur Macht in ihnen. Dieser befriedigt sich bei den Schwachen im Wohltun und Helfen, beides ist als kleine Überlegenheit zu sehen. Diese Möglichkeiten zur Macht, treibt die Schwachen zueinander und mündet in einem Verlangen nach Herden-Organisation.[66]

Konzepte

In diesem Kapitel sollen grundlegende Konzepte von Nietzsche und Hinz untersucht werden. Wie eingangs schon beschrieben, differenziert Hinz nicht zwischen verschiedenen Arten von Moral. Deutlich wird das in Absatz 12, wenn er die Verhunzung der Moral beschreibt.[67] In Absatz 4 rechnet er Nietzsche an, dargelegt zu haben, „daß diejenigen, die sich als [‚gute Menschen‘] produzieren, gar nicht über die moralischen Qualitäten verfügen, die [sic!] sie sich selber unterstellen.“[68] Demnach gibt es moralische Qualitäten, die der Gutmensch zu erfüllen beansprucht.

Dabei stellt Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie der Moral eine viel grundsätzlichere Forderung: „[W]ir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen.“[69] Wenn Nietzsche von einem jahrtausendlangem Kampf berichtet,[70] den „die Moral des gemeinen Mannes“[71] gewonnen hat, dann ist insbesondere die „moralische Belehrung alter Schule“[72] gemeint, die Hinz vom Gutmenschen zu unterscheiden versucht. Hinz scheint also nicht das Konzept von Moral mit Nietzsche zu teilen.

Hinz stellt andere ethnische und religiöse Gruppe als eine Gruppe dar, denen gegenüber Herrschaftsansprüche geltend gemacht werden sollen.[73] Er führt gesellschaftliche Probleme auch auf ‚kulturelle Inkompatibilität‘ zurück.[74] Hier lässt sich das neurechte Narrativ von der Bedrohung der eigenen Gruppe, durch eine fremde, erkennen. Er beschreibt einen Feind „der einen [selbst] unterwerfen, auslöschen, umbringen will“.[75] Nietzsche hingegen sympathisiert merklich mit der „höchsten Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch“[76] und begrüßt zu diesem Zweck das Sterben von Organen zugunsten des Organismus.[77] Kaufmann pointiert genau diesen Aspekt, wenn er behauptet, man könnte den

„als Gefahr gesehenen Untergang der überzivilisierten, schwächlichen Deutschen oder Europäer mit Nietzsches Text als Chance für einen kulturellen Neuanfang unter der Herrschaft der fremden ‚Barbaren‘ begreifen, so dass auch eine mögliche ‚Islamisierung des Abendlandes‘ ihren Schrecken verlöre.“78

Zuletzt soll noch betrachtet werden, wie sich die Existenz des Artikels an sich mit der Selbstdarstellung Hinz‘, als Mensch der Herrenmoral, vereinbaren lässt. Es ist anzumerken, dass Nietzsche einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt,[79] insofern, als dass er die Herkunft und Wirkungsweise der Moral ergründen möchte. In Anbetracht der starken und einseitigen Kritik am Gutmenschen, erkennbar an der manipulativen Selektion obiger Zitatstellen, ist dieser Anspruch im Zeitungsartikel von Hinz nicht gelten zu lassen. Nach Nietzsche bekundete die Herrenmoral kaum Interesse am Mensch des Ressentiments,

„sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen – ihr negativer Begriff »niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein nachgebornes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven […] Grundbegriff“.[80]

Die Darstellung des Gutmenschen im Artikel erweckt nicht diese Gleichgültigkeit, der Gutmensch ist kein blasses Kontrastbild, vielmehr ein Feindbild, wird er doch genau als Feind beschrieben.[81]

Konklusion

Es konnte gezeigt werden, dass sich die Klugheit, Naivität und Selbsthass, des Gutmenschen von Hinz, nicht mit denen des Menschen des Ressentiments von Nietzsche decken. Selbst wenn der Gutmensch als ein Mensch des Ressentiments verstanden werden kann, so würde dies als Bestätigung für die Analyse der Gesellschaftsstrukturen nach Nietzsche dienen; Gutmenschen wären dann eine Untergruppe in der Sklavenmoral. Wichtig ist, dass die Behauptung, die Gruppe der Menschen des Ressentiments sei die gleiche, wie die der Gutmenschen, nicht belegt werden kann. Die Sklavenmoral umfasst also mehr als das Gutmenschentum.

Besonders eindrücklich wird dies dadurch, dass Hinz, durch das Verfassen des Artikels, fundamentale Merkmale der Sklavenmoral aufweist. Das untergräbt die offensichtliche Aufgabe des Artikels, den politischen Gegner, mit Bezug auf einen allgemein anerkannten Philosophen, zu diskreditieren. So bekundet Hinz reges Interesse an seinem seinen politischen Gegner, im Gegensatz zu der Ignoranz der Vornehmen. Es lässt sich eine Furcht vor kulturellen und religiösen Gruppen erkennen und insbesondere der Gutmensch wird als böser Feind dargestellt. Sich über das Böse zu definieren, die fundamentale Eigenschaft der Sklavenmoral, kann Hinz hier nachgewiesen werden, während genau diese wichtige Dimension bei der Charakterisierung vom Gutmenschen fehlt.


[1] Höcke, Bernd: Fragebogen. In: Junge Freiheit, 50/2014, Abrufdatum: 10.05.2019.

[2] Ebd.

[3] Junge Freiheit: Stellenangebote, https://jungefreiheit.de/informationen/stellenangebote/, Abrufdatum: 10.05.2019.

[4] Braun, Stephan; Alexander Geisler, Martin Gerster: Die „Junge Freiheit“ der „Neuen Rechten“. Bundes- und landespolitische Perspektiven zur „Jungen Freiheit“ und den Medien der „Neuen Rechten“. In: Braun, Stephan; Ute Vogt (Hg.): Die Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Kritische Analysen zu Programmatik, Inhalten, Autoren und Kunden, Wiesbaden 2007, S. 17.

[5] Ebd., S. 16.

[6] Niedermayer, Oskar: Parteimitgliedschaften. In: Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 163.

[7] Decker, Frank: Die Organisation der AfD, https://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in- deutschland/afd/273133/organisation, Abrufdatum: 10.05.2019.

[8] Stöss, Richard: Die „Neue Rechte“ in der Bundesrepublik, https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/229981/die-neue-rechte-in-der-bundesrepublik, Abrufdatum 10.05.2019.

[9] Kaufmann, Sebastian: Nietzsche als Vordenker der Neuen Rechten?. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 1/2017, S. 88 f.

[10] Ebd., S. 90.

[11] Kaufmann: Nietzsche als Vordenker der Neuen Rechten?, S. 89.

[12] Jessen, Jens; Ijoma Mangold: Man macht sich zum Knecht. In: Die Zeit, 23/2016.

[13] Ebd.

[14] Kaufmann: Nietzsche als Vordenker der Neuen Rechten?, S. 90.

[15] Maegerle, Anton: Politischer und publizistischer Werdegang von Autoren der „Jungen Freiheit“. In: Braun, Stephan; Ute Vogt (Hg.): Die Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Kritische Analysen zu Programmatik, Inhalten, Autoren und Kunden, Wiesbaden 2007, S. 205.

[16] Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: Frenzel, Ivo (Hg.): Friedrich Nietzsche. Werke in zwei Bänden, Bd. 2, München, 1967, S. 185.

[17] Vgl., ebd., S. 187.

[18] Vgl., ebd., S. 193.

[19] Vgl., ebd., S. 190.

[20] Vgl., ebd., S. 196.

[21] Ebd., S. 195.

[22] Vgl., ebd., S. 193.

[23] Vgl., ebd., S. 191.

[24] Ebd., S. 203.

[25] Vgl., Hinz, Thorsten: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen. In: Junge Freiheit, 30/2009, Absatz 6.

[26] Vgl., ebd., Absatz 12.

[27] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 195 f.

[28] Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 6.

[29] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 196.

[30] Ebd

[31] Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 12.

[32] Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben, Werke, Wirkung. Stuttgart 2000, S. 248.

[33] Vgl., ebd.

[34] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 195.

[35] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 195.

[36] Ebd., S. 196.

[37] Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 6.

[38] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 194.

[39] Vgl., ebd., S.194.

[40] Ebd., S. 194.

[41] Vgl., ebd., S.194.

[42] Vgl., ebd., S.195.

[43] Kaufmann: Nietzsche als Vordenker der Neuen Rechten?, S. 95.

[44] Vgl., Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 194.

[45] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 194.

[46] Vgl., Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 4.

[47] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 271.

[48] Vgl., ebd.

[49] Vgl., Aron, Raymond: Max Weber und die Machtpolitik. In: Stammer, O. (Hg.): Max Weber und die Soziologie heute: Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages in Heidelberg 1964. Tübingen 1965, S. 105.

[50] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 194.

[51] Ebd.

[52] Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 8.

[53] Ebd., Absatz 14.

[54] Ebd.

[55] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 180.

[56] Vgl., ebd.

[57] Ottmann: Nietzsche-Handbuch. Leben, Werke, Wirkung, S. 304.

[58] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 255.

[59] Vgl. Stegmaier, Charles: Die Bedeutung des Priesters für das asketische Ideal. Nietzsches ‚Theorie‘ der Kultur Europas. In: Höffe, Otfried (Hg.): Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004, S. 156.

[60] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 257 f.

[61] Es gilt anzumerken, das diese verkürzte Darstellung der komplexen Charakterisierung des Priester von Nietzsche nicht gerecht wird und auch keinen Anspruch darauf erhebt. Um das Konzept der Selbstzerstörung von Hinz zu widerlegen, reicht die benutze Charakterisierung allerdings aus.

[62] Vgl., ebd., S. 199.

[63] Vgl., Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 11.

[64] Vgl., Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 255.

[65] Vgl., ebd., S. 202.

[66] Vgl., ebd., S. 269.

[67] Vgl., Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 12.

[68] Ebd., Absatz 4.

[69] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 181.

[70] Vgl., ebd., S. 191.

[71] Ebd., S. 192.

[72] Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 5.

[73] Vgl., ebd., Absatz 10.

[74] Vgl., ebd., Absatz 4.

[75] Ebd., Absatz 8.

[76] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 181.

[77] Vgl., ebd., 126.

[78] Kaufmann: Nietzsche als Vordenker der Neuen Rechten?, S. 94 f.

[79] Vgl. Wolf, Jean-Claude: Exposition von These und Gegenthese: Die bisherige „englische“ und Nietzsches Genealogie der Moral. In: Höffe, Otfried (Hg.): Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004, S. 42.

[80] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 193.

[81] Vgl., Hinz: Gutmenschen. Ideologie der Unschöpferischen, Absatz 12.